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    Eine schleimig lilafarbene Schicht überzieht ihren Körper. Sie liegt reglos vor einem großen Spiegel, starrt sich an und spürt, dass sie mal zerfiel und jetzt langsam wieder zusammenwächst. Ist das ihr Anfang? Der eine, wahre Anfang? Sie hat keine Erinnerungen an ein davor. Sie will aufstehen, aber nichts lässt derartiges zu und mit jeder unbewegten Sekunde wird ihr Verlangen größer. Sie versucht innerlich etwas zu greifen, von dem sie so überzeugt ist, dass es greifbar ist. Doch sie fasst ins Leere, kann sich nicht mehr unterscheiden und selbst orten. Der Schleim auf ihrer Haut trocknet und hinterlässt eine unangenehm bröckelnde Struktur, die langsam von ihr ab pellt. In dieser surrealen Realität wird plötzlich auf einen Schlag alles entzerrt. Ein elektrisches Zucken durchschießt ihren gesamten Körper, das jede Bewegung gleichzeitig stattfinden lässt. Sie springt auf, hin und her taumelnd. Ihr Kopf dröhnt und pocht und aus dem Geschrei von Gedanken kristallisiert sich eine Stimme heraus, die ihr zu verstehen gibt. Verfolgt von einem unendlichen Leben wird sie ab heute alle 400 Tage und keine Sekunde später von einem identisch anderen Körper besucht, der den vorherigen ablöst. Sie wurde nie geboren und wird niemals sterben.

    Es ist ein Dienstagnachmittag, an dem der neue Körper bereit ist, alles Immaterielle in sich aufzunehmen. Ein merkwürdiger Vorgang startet, in dem sie entzweit wird, aber diese Entzweiung ist eher ein Zerbrechen in tausend Einzelteile. Alles fällt auf den Boden und das scheppernde Echo hallt im Raum hin und her, holt sie wieder und wieder ein. Während des Prozesses hält sie dieses Etwas fest in der Hand, um es in dem Chaos nicht zu verlieren und drückt es an sich, aus Angst, ohne es nicht mehr Eins werden zu können. Was hält sie da eigentlich? Was darf alles zerbrechen, zerfallen und verloren gehen, bis sie nicht mehr sein kann? Dann wird es still. Sie wacht im neuen Selbst auf, beobachtet ihr altes. Den Körper hat sie aber nicht umsonst bekommen. Der vorherige verlangte eine Erinnerung, die er während des Prozesses aus ihrer Seele riss. Diese Erinnerung klafft als tiefe Lücke in ihr. Doch jetzt stirbt der alte Körper und löst sich langsam vor ihren Füßen auf. Verzweifelt rutscht er auf dem Boden herum, versucht, am Leben zu bleiben und klammert sich schmerzhaft an diese letzte Erinnerung. Diesen einen Teil, den er so hoffnungsvoll mitnahm, um daraus eine eigene Seele, ein eigenes Selbst zu bauen. Schließlich vergeht er und nimmt die Erinnerung mit in seinen Tod. Nach nicht einmal drei Minuten ist sie wieder alleine.

    Ein paar hunderttausend Tage vergingen, die immer wieder von dem wiederkehrenden Sterben und Gebären eingeholt wurden. Sie hat dieses Schicksal schon vor Langem akzeptiert, aber jetzt fühlt sie etwas Seltsames. Dieser Wechsel wird anders, denn der neue Körper steht einen Tag zu spät vor ihr. Etwas stimmt nicht und plötzlich überkommt sie eine wahnsinnige Angst. Sie starrt in ihre Augen. Todesangst. Sie will weglaufen und schreien und kämpfen, ankämpfen gegen diesen Prozess. Sie will sich behalten und auf einmal begreift sie, dass es nicht sie ist, die Angst hat, sondern ihr jetziger Körper, weil er weiß, dass er stirbt, wenn er von ihrer Seele verlassen wird. Der eine Tag hat ausgereicht, um die endgültige Verschmelzung herzustellen. Keine Teile, keine Trennung. Dann spürt sie, wie ihr anderer Körper sie einsaugt, während ihr jetziger an ihr festhält. Ihre Seele zerreißt und all die Erinnerungen, Gefühle und Emotionen verteilen sich im Raum. Wie kleine Schneeflocken schwirren sie durch die Luft und die Körper versuchen sie einzufangen, doch auf ihren warmen Häuten schmilzt alles dahin. Die Körper können nicht überleben und sie beobachtet einen dreifachen Tod. Alles geht so schnell, bevor wieder Ruhe einkehrt. Sie ist woanders und fühlt plötzlich, was sie wirklich ist. Nicht ihre Körper und nicht ihre Seele. Da war immer etwas anderes, das, was sie hier gehalten hat und was die Körper so sehr begehrten. Nur das ist jetzt übrig.

    Es ist verwirrt. Es ist diese freie Existenz nicht gewohnt. Wo sind die Sinne und Gefühle? Wo ist das Blut und der Herzschlag und die Luft in der Lunge? Es begreift die Welt nicht mehr. Irgendwie ist sie noch da, aber alles wurde von ihr geschält. Die Verbindung zu ihr ist weg. Es ist alleine mit dieser bloßen Existenz, irrt umher auf der Suche nach etwas. Es ist sie und sie ist es, aber ohne sie kann es nicht sein und sie kann ohne es nicht sein. Wie soll es weiter existieren? Panik. Es kann sich nicht mehr in der Welt halten. Es beginnt, sich zu erhitzen und wie ein Stern in seiner Endphase bläht es sich auf, immer mehr und mehr, bis das Maximum erreicht ist. Die riesige Explosion lässt alles erschüttern und als immateriell unsichtbarer Feinstaub zerfliegt es mit einer gewaltigen Energie in alle Richtungen. Ein Licht von hundert Sonnen erstrahlt die Umgebung. Darauf folgt tiefe Dunkelheit und für ganz kurze Zeit ist ein Loch in der Welt, eine blutlose Wunde, die sich selbst einsaugt und völlig vernichtet. Sie ist nicht gestorben. Das war mehr. Es war das absolute Ende ihrer Existenz.

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